- Bote
Sie springen wie jeden Tag. Der Ablauf ist immer derselbe: Einer dieser Offroader mit versenkbarem Dach fährt vor und die Touristen steigen aus. Dann stellen sich die Dorfbewohner auf, einer von ihnen spielt ein selbstgebautes Plastikinstrument, das wie ein australisches Didgeridoo klingt. Dann summen die anderen im Takt, schließlich springen sie einer nach dem anderen. Dann gibt es eine Demonstration von Massai-Männern, die mit Stöcken und ohne Streichhölzer Feuer entzünden.
Touristen mögen das so – und lassen am Ende die obligatorische „Spende“ von zehn Euro übrig. Rund um das Gehege, den traditionellen Viehstall im Zentrum des Dorfes, gibt es einen Markt mit allerlei Dekorationsprodukten. Der Dorfvorsteher Kajita Kakelio wirft den Reportern einen entschuldigenden Blick zu, als er an den Ständen vorbeikommt. „Was sollen wir tun? Ohne Touristen können wir nicht überleben“, sagt er.
1959 gründeten seine Vorfahren das Dorf Irkeepusi, „den Ort der grünen Vegetation“, nachdem die Regierung sie vertrieben hatteSerengetivertrieb sie, weil sie dort angeblich die Natur störten. Irkeepusi ist heute eine Art Freilichtmuseum, mit einem handgemalten Schild am Dorfeingang: „Kulturdorf“. Von den 200 Kühen sind nur noch 13 übrig, der Rest ist gestorben oder wurde verkauft. Denn mehrere Graslandschaften hier im Ngorongoro-Naturreservat sind aus Naturschutzgründen inzwischen für sie gesperrt, darunter auch der Krater selbst. Was bisher als Ausstellungsprojekt für das Zusammenleben von Mensch und Natur galt, scheiterte kläglich.

Dann spricht Kakelio über dieses Musikvideo. PBS, Amerikas größter Fernsehsender, hat letztes Jahr einen Dokumentarfilm über die Naturwunder Tansanias gedreht. Ein Ausschnitt davon ist seit Monaten auf Twitter zu finden. Der renommierte Reisejournalist Peter Greenberg sitzt im Hubschrauber mit der tansanischen Präsidentin Samia Suluhu Hassan, während sie über die Massai-Dörfer von Ngorongoro, auch bekannt als Irkeepusi, fliegen. Der Präsident erklärt dem Journalisten die Rundhütten, die Massai-Traditionen. So beginnt Greenbergs Geschichte. Er spricht von „primitiven Menschen“, die sich der Moderne verweigern und sich ständig reproduzieren. Man hört, wie Suluhu Hassan kurz mit „Ja“ antwortet.


Die Szene zeigt sich gut, wie in weiten Teilen der Welt, u.aTansaniasogar dass die Massai berücksichtigt werden. Sie sind eine Art niedliches Maskottchen, das geschätzt wird, solange sie als Touristenattraktion herumhüpfen und auf die altmodische Art Lagerfeuer machen. Doch eine tansanische Regierungsstudie aus dem Jahr 2019 sieht in den Massai vor allem eine Bedrohung für die Natur, ihre Rinderherden zerstören das Ökosystem, und es müsse schnellstmöglich eine Lösung gefunden werden. In den Augen der Naturschutzbehörden wirken die großen Hütten und die tausenden Safarifahrzeuge weniger störend als die Hirten und ihre Tiere.
Und dann hat die Regierung einen neuen Masterplan: Die Massai müssen sich aus dem Ngorongoro-Naturschutzgebiet fernhalten, Zehntausende Einwohner sind potenziell betroffen. Ihnen wurden kleine Häuser am anderen Ende Tansanias angeboten, in einer fremden Region, mit einem fremden Lebensstil. Die meisten haben abgelehnt, nur wenige Hundert sind bisher freiwillig umgezogen. Jetzt versucht die Regierung einen neuen Ansatz, Einheimische berichten davon und Menschenrechtsorganisationen dokumentieren es seit Monaten: Offenbar soll das Leben für die Massai so unbequem wie möglich sein – jedes Mittel scheint gerechtfertigt.
Im Massai-Dorf Irkeepusi führt Häuptling Kakelio Spiegel das Team zu einem Kindergarten. Touristen sehen diesen Teil des Dorfes nicht. Rund 30 Kinder sitzen zusammengedrängt auf Holzbänken in einem kleinen Raum und lernen Buchstaben und erste Wörter. Durch die ungewaschenen Fenster dringt dichter Nebel ins Zimmer, wie so oft hier im Hochland. „Wir haben diesen Kindergarten selbst finanziert und aufgebaut“, sagt Kakelio und weist darauf hin, dass die Regierung keinen Cent gebe. Dann erzählt er von der zwei Kilometer entfernten Grundschule, wo die Behörden gerade sieben der 13 Lehrer evakuiert haben. „Sie wollen uns verhungern lassen“, sagt er.




Dann rennt der Dorfvorsteher ein paar hundert Meter weiter und beschwert sich darüber, dass wohlhabende Investoren Land kaufen, während die Massai vertrieben werden. „Sie wollen uns loswerden und die Geschäfte nehmen den ganzen Platz ein.“ Plötzlich wendet sich Kakelio mitten auf einer riesigen Wiese nach links; er springt über einen tiefen Graben, erklimmt einen steilen Hügel. „Sie waren neulich mit ihren Fahrzeugen hier, sie haben Markierungen auf dem Boden angebracht, sie haben ein Grundstück umzingelt“, schreit er. Sie: Es sind die Ranger, zusammen mit externen Investoren. Kakelio klingt nicht mehr wie ein Massai, der für Touristen gegen Geld tanzt. Er klingt wie ein Aktivist, der einen Kampf gegen Angreifer führt.
Der Dorfvorsteher schaut sich weiter um und sucht das Land ab, doch die Spuren sind nicht mehr zu finden. Ein weiterer Massai kommt angerannt, sie unterhalten sich kurz, dann lächelt Kakelio: „Unsere Waffenbrüder haben sie aus Protest von den Füßen gerissen.“ Vertreibungen. Viele hätten unterschrieben, sagt er.
Am anderen Ende des Ngorongoro-Schutzgebiets, in der Stadt Endulen, weit abseits der Touristenpfade, stehen ein Dutzend Massai-Männer unter einem Baum. Sie sprechen leise, es ist ein Verschwörungstreffen, verborgen vor den Augen und Ohren der Regierung. Sie planen Widerstand.

Endulen ist so etwas wie die Hauptstadt des Ngorongoro-Schutzgebiets. Neben den traditionellen Massai-Hütten gibt es auch Häuser aus Stein oder Wellblech, der Markt ist belebt, ein Meer aus bunten Stoffen. Gerade ist ein LKW auf der schlammigen Hauptstraße steckengeblieben, er ist in den Graben gefallen, ein Rad hängt in der Luft, die Lage sieht aussichtslos aus. „Die Regierung hat unsere Straße schon lange nicht mehr repariert, weil sie uns loswerden will“, sagt Thomas Oltwaty, einer der Dorfältesten in Edulen. Menschen sind bereits tot, weil sie nicht weggebracht werden konnten.
Der Unterschied ist übrigens leicht zu erkennen: Die Straßen zu den Gasthöfen sind glatt, der Tourist muss maximalen Komfort haben. Doch hinter der letzten großen Luxusunterkunft beginnt der Schlamm, das ist der Weg nach Edulen. Im Ort selbst verrottet eine Schule, zwei Toiletten sollen für über 1.800 Schüler reichen. „Die Regierung hat Gelder für Renovierungen umgeleitet, Baumaterialien sind nicht erlaubt, Lehrstellen sind nicht besetzt“, sagt Oltwaty. Eine weitere kirchliche Schule wurde inzwischen geschlossen. Das Gebäude wurde von den Behörden sofort dem Erdboden gleichgemacht. Dies geschieht auch bei Heimen für freiwillig Umgesiedelte.
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Das Argument der Regierung, dass die wachsende Bevölkerung das Ökosystem gefährdet, will Oltwaty nicht akzeptieren. Platz gibt es im Naturschutzgebiet genug, und ohnehin ziehen immer mehr Massai in die Städte. Schäfer leben seit Jahrzehnten im Einklang mit der Tierwelt. Tansanias Umweltminister und Tourismusministerium haben bislang auf eine umfangreiche Liste von Fragen des Spiegel nicht geantwortet.
Bei Reisen durch die Ngorongoro-Region endet fast jedes Gespräch mit einer mächtigen deutschen Institution: der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF). Ende der 1950er Jahre entwickelte sich der damalige Direktor des Frankfurter ZoosBernhard Grzimekein tiefes Interesse an der Tierwelt Tansanias. Sein Film „Serengeti Won’t Die“ machte ihn auf der ganzen Welt berühmt. Grzimek überzeugte den damaligen Präsidenten TansaniasJulius Nyereregroße Teile des Landes unter Naturschutz zu stellen. Bis heute ist die ZGF dort aktiv, unter anderem im Ngorongoro-Gebiet.
Weniger diskutiert: Grzimek war ein Anhänger rassistischer Ideologien. Noch in den 1970er-Jahren war er ein Befürworter der Zwangssterilisierung Behinderter und setzte sich geradezu erschreckend gegen die vermeintliche Überbevölkerung auf dem afrikanischen Kontinent ein. Ein friedliches Zusammenleben zwischen Bewohnern und Wildtieren schien ihm unmöglich. Dieser Ansatz wurde weltweit als „Festungsschutz“ kritisiert, wird aber immer noch sehr häufig praktiziert. Kritiker sehen in der geplanten Vertreibung der Massai aus Ngorongoro ein Wiederaufleben dieser Ideologie.
Mittlerweile ist das Thema für die ZGF äußerst sensibel geworden, da sie sich zunehmend aus der Ngorongoro-Region zurückgezogen hat. Auch Experten der Zoologischen Gesellschaft sehen in der wachsenden Massai-Bevölkerung und ihren Tierherden ein ökologisches Problem, distanzieren sich aber vorsichtig von der tansanischen Regierung. „Die aktuelle Situation ist für beide Seiten nicht gut, weder für die Massai noch für den Tier- und Naturschutz.“ „Entscheidend wird es sein, eine echte Win-Win-Lösung zu finden, die die Rechte der Menschen schützt und negative Auswirkungen minimiert“, sagt Dennis Rentsch, stellvertretender Leiter Afrika der ZGF.

Doch von dieser Win-Win-Situation scheint man im Moment weit entfernt. Um dies zu verstehen, genügt ein Besuch des Edulen-Krankenhauses, das von der katholischen Kirche verwaltet wird. Das einstöckige Klinikgebäude liegt mitten im Wald am Ortsrand, das Grundstück wirkt verlassen. Nach ein paar Anrufen verlässt ein Mitarbeiter, der nicht identifiziert werden möchte, das Unternehmen. Die tansanischen Behörden hätten dem Krankenhaus bis 2018 fast 200.000 Euro zur Verfügung gestellt, hauptsächlich für die Gehälter des Personals. Aber dieses Geld wurde ohne Wiederauffüllung abgeschrieben. Sie hätten 17 Ärzte und Krankenschwestern entlassen sollen, und die Zuschüsse für diejenigen, die blieben, wurden gekürzt. „Hier will keiner mehr arbeiten“, sagt der Mitarbeiter.
170 Kilometer nördlich, in Ololosokwan, wird der Kampf gegen die Massai nicht mit reduzierten Mitteln, sondern mit Waffen und Bulldozern geführt. Der Standort grenzt an die Loliondo Game Controlled Area (LGCA), ein Reservat, das heute in ganz Tansania bekannt ist.
Im Wildreservat gibt es zwei luxuriöse Adelshütten und ein Jagdgebiet für wohlhabende Großwildjäger, das von einer Firma aus den Vereinigten Arabischen Emiraten betrieben wird. Seit Jahren gibt es Versuche, die Massai aus der LGCA zu vertreiben, doch letztes Jahr hat die tansanische Regierung endlich Ernst gemacht. Es begann mit einem Erlass, der einen Teil des Gebietes unter strengeren Schutz stellte und dort die Besiedlung und Tierhaltung verbot.



Ntaloi Olieng'o erinnert sich noch an die Tage im Juni 2022, als die Sicherheitskräfte mit ihren SUVs eintrafen. Sie kamen, um Wahrzeichen zu errichten und eine klare Grenze zwischen Wildtieren und wohlhabenden Touristen einerseits und den Massai andererseits zu ziehen. Einer dieser Betonpfeiler stehe plötzlich neben Oliengos Haus, sagt er. Bald darauf wurde es mit Ketten und roher Gewalt abgerissen.
Der 40-jährige Mann sitzt auf einem Baumstamm, umgeben von Ziegen und Schafen und voller Fliegen. Seine Familie baute vier neue Hütten auf einem Hügel. Auf der grünen Ebene sind noch immer die Ruinen seines alten Zuhauses zu sehen. Allerdings behauptet die tansanische Regierung, dass es im Reservat nie Siedlungen gegeben habe. „Zumindest können wir hier oben erkennen, wann die Sicherheitskräfte wieder anrücken.“ Aber wir sind nirgendwo sicher“, sagt Olieng'o. In diesem Konflikt verlor er seinen Vater.
Olieng'os Version lautet wie folgt, sie lässt sich nicht unabhängig überprüfen, deckt sich aber mit den Beschreibungen anderer Augenzeugen, mit denen DER SPIEGEL gesprochen hat: In den frühen Morgenstunden des 10. Juni, kurz nach Sonnenaufgang, wurden die Menschen in Ololosokwan durch ein Geräusch geweckt. Sicherheitskräfte setzten Tränengas, Macheten und Gummigeschosse gegen die Massai ein. Das Zischen der Projektile ist in selbst gedrehten Videos zu hören.
Olieng'os Vater, ein 84-jähriger Viehhirte, wurde verletzt. „Er wurde am Bein getroffen und dann in ein Auto gezerrt und wir haben ihn seitdem nicht mehr gesehen“, erinnert sich sein Sohn. „Sie haben ihn in einen weißen Sack gesteckt, ich glaube nicht, dass er noch lebt.“ „Sie haben mir alles genommen“, sagt die Frau, die verschwunden ist. Der alte Mann war an diesem Tag nicht das einzige Opfer. Ein Polizist wurde ebenfalls getötet und mit Pfeil und Bogen erschossen, der Angreifer wurde jedoch nie gefasst. Die Massai machen dicht.

Und sie gaben sich mit dem zufrieden, was sie Krieg nennen. Die Kühe treiben sie nun heimlich im Schutz der Dunkelheit ins Naturschutzgebiet, weil sie ihre wertvollen Weiden nicht aufgeben wollen. Werden sie erwischt, drohen die Ranger mit heftigen Schlägen – so beschreiben es viele Hirten. Am nächsten Morgen schickte ein Aktivist aus Ololosokwan eine Nachricht: „Ein weiterer Hirte wurde gefangen genommen, Kühe verhaftet.“ Einen Tag später kam eine weitere Nachricht: „Ein Ranger wurde verwundet, von einem Pfeil getroffen. Aber er lebt.“ Die Gewaltspirale geht weiter.
Touristen sollten diesen Konflikt möglichst wenig bemerken, weder im Ngorongoro-Krater noch in Loliondo. Sie werden weiterhin zu Massai-Folkloreshows entführt, bei denen Sie ein Volk „in seiner ganzen Originalität“ bewundern können. Ein Volk, das eigentlich nicht mehr dazu bestimmt ist.
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Die Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt das Projekt seit 2019 zunächst für drei Jahre mit insgesamt rund 2,3 Millionen Euro – rund 760.000 Euro pro Jahr. Im Jahr 2021 wurde das Projekt unter gleichen Voraussetzungen um knapp dreieinhalb Jahre bis zum Frühjahr 2025 verlängert.
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